Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

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Loki
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Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Loki » 25. April 2013, 21:36

DAS Buch zum Forum. Leseerfahrungen, Rezensionen, Bezugsquellen, Preise, Zitate und was Euch noch dazu einfällt.
Heutzutage ist es ziemlich hart, ein Irrer im mittleren Alter zu sein.
(John Katzenbach)

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Zitate

Beitragvon Loki » 25. April 2013, 22:06

Hallöchen [hi_bye]

Zu erst noch mal der Hinweis, dass Forum-Mitglieder eine E-Book-Version hier »günstig« [good] beziehen können. Dafür möchte ich mich noch einmal persönlich bedanken.

Zur Zeit bin ich noch dabei, es zu lesen.
Mittlerweile habe ich es zu Ende gelesen.
Da ich schon zu Beginn immer wieder auf Formulierungen gestoßen bin, die bei mir ein aha-Erlebnis bewirkten, habe ich damit begonnen, mir diese Stellen zu markieren. Schnell kam die Idee, diese Zitate-Sammlung nicht nur für mich, sondern für alle zugänglich zu machen. Vielleicht bekommt ja der eine oder andere auch noch Lust darauf, das Buch einmal selbst zu lesen, oder uns »seine« Lieblingsstellen mitzuteilen.

Nun geht es auch gleich los. Ich wünsche Euch viel Spaß - oder denen, die beim Thema des Buches keinen Spaß empfinden können - angenehme, nachdenkliche Lesemomente.

(Alle Zitate aus »Das Ende meiner Sucht« von Olivier Ameisen, Verlag Kunstmann Antje Gmbh.)

#1 - Seite 13 von 272 (Sony PRS-T2), Seite 20,5 von 620 (Calibre) -
Immer, wenn die Medizin eine Krankheit nicht heilen konnte, hat sie dem Patienten die Schuld gegeben, dem es wahlweise an moralischer Stärke, an positivem Denken oder an Willenskraft fehlte.



#2
HALT (Hungry, Angry, Lonely, Tired), bezeichnet die Zustände, die das Verlangen verschlimmern: hungrig, ärgerlich, einsam, müde.



#3
Oder um es direkter zu formulieren: Angst, Depression, Zwangsproblematik oder eine andere Störung war zuerst da. Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte.



#4
Am 22. Dezember 1951 wurde mein älterer Bruder Jean-Claude geboren, eineinhalb Jahre später, am 25. Juni 1953, kam ich zur Welt und am 8. September 1957 unsere Schwester Eva.



#5
Doch damals erstaunte mich jungen Arzt etwas anderes: dass Voraussetzung für die Aufnahme eine Mindestzeit der Alkoholabstinenz war. Mir schien, als würden nur die Hilfe bekommen, die sie gerade nicht am dringendsten brauchten. Ich fragte mich, was mit den Alkoholikern wurde, die noch schlechter dran waren. Aber die Regel, dass Abstinenz die Voraussetzung für die Behandlung war, stellte ich nicht infrage und auch nicht die implizite Annahme, dass es sich bei Alkoholismus im Wesentlichen um ein Problem mangelnder Willensstärke handelte.



#6
Der Alkohol beruhigte mich in einer Weise, wie es den Benzos nie gelungen war, und ganz ohne deren unangenehme Nebenwirkungen. Der Scotch tat auch meinem Selbstbewusstsein gut. Ich fühlte mich ruhig, aufgeschlossen, wach und durch und durch wohl. Ich konnte angeregt mit einem vollkommen fremden Menschen plaudern.



#7
Darüber hinaus fürchtete ich, alles zu verlieren, zu verarmen und obdachlos zu werden.



#8
Die Aversionstherapie mit Antabus funktioniert im Allgemeinen nicht gut, weil sie das Verlangen nach Alkohol nicht ausschaltet und die Patienten wissen, dass sie das Antabus nur fünf Tage absetzen müssen, damit die Wirkung aufhört und sie gewissermaßen wieder gefahrlos trinken können.



#9
Ich versuchte es mit Akupunktur und Hypnose, beide Male war der Erfolg gleich null, und ich konsultierte einen sehr renommierten Spezialisten für kognitive Verhaltenstherapie (KVT), eine Behandlungsform, die mich, wie man mir versicherte, in die Lage versetzen würde, emotionale Situationen, in denen ich üblicherweise zum Alkohol griff, zu vermeiden oder zu bewältigen. Er schien mehr daran interessiert zu sein, aus mir, dem Rauschtrinker, der Schnaps konsumierte, einen gemäßigten Weintrinker zu machen.



#10
Wenn ich nicht gerade betrunken war, absorbierte die Anstrengung, nicht zu trinken, meine ganze Zeit und Energie.



#11
Später, in der Entzugsklinik, lernte ich zu sagen: »Ich bin ein guter Mensch mit einer schlechten Krankheit.



#12
John Schaefer baute mich zwar ein wenig auf, weil er darauf beharrte, Alkoholismus sei eine Krankheit und kein Charakterfehler, aber ganz konnte ich das Gefühl der Scham nicht abschütteln.



#13
Wir leben in einer Welt, in der scheinbar alles repariert werden kann – von Experten, mit Geld oder einer Kombination von beidem. Und wenn die »Experten« ein Problem nicht lösen können, nun, dann existiert entweder das Problem nicht wirklich, oder derjenige, der das Problem hat, muss selbst damit fertig werden.



#14
Ich entdeckte tiefe Weisheit im ersten von den zwölf Schritten der AA: »Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.«



#15
Eines schienen die Alkoholiker, die ich bei den AA traf, gemeinsam zu haben: Sie alle sagten, sie würden trinken, um einen lebenslang bestehenden Schmerz zu lindern, in der Regel verbunden mit Angst, einer affektiven oder Persönlichkeitsstörung. Ich fand das bemerkenswert.



#16
Bei Liz Khuris nächstem Besuch erzählte ich ihr, wie es mir ergangen war, und sagte: »Ich habe mich immer für einen Agnostiker gehalten, aber ich spüre ein spirituelles Erwachen. Mein Gefühl sagt mir, dass ich nicht mehr trinken werde.«
Liz erwiderte: »Das Gefühl, das Sie beschreiben, passt zu dem, was wir über ein spirituelles Erweckungserlebnis bei Menschen mit einer Sucht wissen. Es könnte eine Art Wunder sein, und nach dem, was Sie durchgemacht haben, hätten Sie es verdient. Denken Sie an das, was ich Ihnen immer wieder sage: Sie sind ein Kind des Universums, und vielleicht kümmert sich das Universum jetzt um Sie.«




#17
Joan fuhr mich nach Clear Spring. Ich hatte nichts dabei, nur die Kleider, die ich am Leib trug, und war in einem Zustand tiefster Depression. Meine Kreditkarten befanden sich in meiner Brieftasche in der Wohnung in New York, und die Klinik verlangte eine Kaution von 5000 Dollar, bevor ich überhaupt aufgenommen wurde.



#18
Clear Spring ist das Ritz unter den Entzugskliniken, eine wunderschöne Anlage mit dem Komfort eines Fünf-Sterne-Luxushotels. Wohlhabende Patienten aus der Metropolregion New York und aus dem ganzen Land kamen dorthin, und wie ich erfuhr, hielten sich auch damals etliche Prominente und Reiche dort auf.



#19
Die Wahrheit ist, dass kein Abhängiger/ keine Abhängige so viel Zeit zum Entzug bekommt, wie er oder sie braucht, sondern nur so viel, wie er oder sie sich leisten kann.



#20
Im Hinblick darauf sagte ich zu Dr. R. und allen anderen in Clear Spring, was ich schon zu allen gesagt hatte, die sich um mich kümmerten: »Mein Grundproblem ist nicht der Alkohol, sondern die Angst. Wenn ich die Angst loswerde, werde ich nicht mehr trinken.«
Dr. R. antwortete wie alle, die sich um mich kümmerten: »Wenn Sie zu trinken aufhören, werden Sie weniger Angst haben.«




#21
Ich war gerade eine Woche zum zweiten Mal in Clear Spring, als eines Morgens ein Arzt zu mir kam. Sehr ernst sagte er: »Sie müssen diesmal länger hierbleiben. Ihr erster Aufenthalt war zu kurz, deshalb hatten Sie einen Rückfall. Damit Sie gesund werden, müssen Sie mindestens zwei Monate bleiben.«
»Das erscheint mir sehr lang.«
»Bezogen auf Ihr ganzes Leben, wenn man davon ausgeht, dass Sie eine normale Lebenserwartung haben, ist es wenig. Und ich empfehle das nur, weil Sie extrem schwer abhängig sind und es für Sie lebenswichtig ist, dass die Abhängigkeit mit aller erforderlichen Sorgfalt behandelt wird. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass es bei Ihnen um Leben oder Tod geht.«
»Wie meinen Sie das? Werde ich sterben, wenn ich nicht mindestens zwei Monate bleibe?«
Er schaute mich tief besorgt an und sagte: »Denken Sie daran, in was für einem Zustand Sie waren, als Sie vor ein paar Tagen hier ankamen.« Und mit einem ermutigenden Lächeln fuhr er fort: »Ich werde Sie nicht länger bedrängen. Machen Sie mit dem heutigen Tagesprogramm weiter, und morgen reden wir noch einmal darüber.«
Später am Morgen zogen Wolken auf und Dauerregen setzte ein. Zu Mittag kam der Arzt noch einmal zu mir.
»Es gibt da ein Problem«, sagte er.
»Was für ein Problem?«
»Ihre Versicherung bezahlt den Aufenthalt hier nicht mehr.«
»Warum denn das? Das letzte Mal haben sie doch auch bezahlt.«
»Wir haben es mehrfach überprüft. Sie haben die Höchstsumme ausgeschöpft, die die Versicherung für die Behandlung einer Sucht bezahlt. Wären Sie bereit, die Behandlungskosten selbst zu tragen?«
»Um welche Summe geht es?«
Er druckste ein bisschen herum, schaute sich um, ob andere Patienten in Hörweite waren, und sagte dann beinahe flüsternd: »Ihre gegenwärtige Form der Unterbringung und Behandlung kostet knapp über 500 Dollar am Tag.«
Der Betrag schockierte mich. »Ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann.« Ich fragte mich, wie viel wohl die Promis und die Reichen in den Privatbungalows bezahlten.
»Dann müssen Sie gehen.«
»Wann?«
»Sofort, heute noch. Die Versicherung bezahlt nur bis heute Morgen.«
»Aber ist das zu verantworten? Sie sagten, bei meiner Behandlung gehe es um Leben oder Tod.«
»Nein, nein, so habe ich das nicht ausgedrückt. Sie dürfen nicht dramatisieren. Bei diesen Dingen gibt es nicht nur schwarz und weiß.«
»Aber Sie sagten, wenn ich nicht bliebe, hätte das sehr schlimme Folgen für mich.«
»Nun wollen wir nicht übertreiben.«
»Und wie soll ich nach New York zurückkommen? Ich weiß nicht, ob ich jemanden erreichen kann, der mich hier abholt.«
»Ganz in der Nähe ist ein Bahnhof. Sie können zu Fuß hingehen und mit dem Zug in die Stadt fahren.«
Ich zitterte vor Angst, deutete aus dem Fenster und sagte: »Bei dem Wolkenbruch? Kann ich nicht heute noch bleiben und alles für eine Abreise morgen regeln? Eine Nacht kann ich selbst bezahlen.«
Der Arzt stand auf, strich seinen weißen Kittel glatt und sagte: »Das hier ist eine Klinik, kein Hotel. Ich bin sicher, Sie schaffen das.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.




#22
Ich war wütend und dachte: Diesen Idioten in der Klinik werde ich es zeigen, zu Hause genehmige ich mir erst mal einen schönen großen Drink.



#23
Bei unseren Gesprächen sagte Dr. T. wiederholt: »Sucht ist ein spirituelles Problem. Warum können Sie sich nicht der Spiritualität zuwenden?«
»Ich verstehe das nicht. Wie soll das gehen?«
»Sie werden es rechtzeitig begreifen.«
»Oder ich werde sterben, während ich auf die spirituelle Erleuchtung warte.«




#24
Sucht ist zweifellos eine Krise des menschlichen Geistes. Dennoch scheint es mir, dass die spirituelle Krise der Sucht ein Spätstadium eines Prozesses darstellt, der im Kern biologische Wurzeln und Mechanismen besitzt.



#25
Verlangen oder Craving ist ein schwer fassbarer Begriff, weil es körperliche, emotionale und mentale Symptome umfasst, die in Wellen über Stunden und Tage hinweg auftreten. Für mich war es eine brutale Tatsache des Lebens. Im schlimmsten Fall, das haben Forschungen gezeigt, ist das Verlangen nach einem Suchtmittel wie der Hunger eines verhungernden Menschen: Die gleichen Hormone werden freigesetzt und die gleichen Gehirnregionen aktiviert. Das Nationale Institut für Alkoholmissbrauch und Alkoholismus (National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism, NIAAA) hat festgestellt, dass das Verlangen nach Alkohol sogar schlimmer sein kann als Hunger oder Durst und dass, wenn der Alkoholismus den Betroffenen im Griff hat, das Gehirn Alkohol als lebensnotwendig ansieht.



#26
Der Gedanke an ein Suchtmittel oder eine suchtartige Verhaltensweise kann sich noch in den ruhigsten Augenblicken in das Bewusstsein des Süchtigen einschleichen und schnell das ganze Denken ausfüllen mit der Sorge, nur ja möglichst schnell das Gewünschte zu erreichen. Das ist eine mental und emotional, aber auch physisch peinigende Erfahrung, weil sie mit Scham und Selbsthass verbunden ist, ein solches Verlangen überhaupt zu spüren.



#27
Das Verlangen nach Alkohol konnte mich in einen tranceähnlichen Zustand versetzen, in dem ich loszog, um Schnaps zu kaufen, als würde jemand anderer meinen Körper kontrollieren und meine Schritte lenken. Wenn das Verlangen mich überwältigte, konnte ich nur hoffen, beten und mich bemühen, am nächsten Tag besser Widerstand zu leisten.



#28
Leider lösten AA-Meetings bei mir manchmal starkes Craving aus, weil dauernd von Alkohol die Rede war. Andere Leute bei den AA berichteten das Gleiche.



#29
Im Winter wachte ich manchmal aus einem Rausch auf und sah, dass es fünf Uhr und draußen dunkel war. Ich überlegte, ob es fünf Uhr morgens oder fünf Uhr am Nachmittag sein mochte. Fünf Uhr am Nachmittag hieß Sieg und fünf Uhr am Morgen Verzweiflung. Ich ging ans Fenster und blickte in die Dunkelheit. Viele Leute unten auf der Straße bedeuteten, dass es fünf Uhr am Nachmittag war und ich hinausgehen und eine Flasche kaufen konnte. Leere Straßen bedeuteten fünf Uhr am Morgen und dass ich noch fünf Stunden warten musste, bis die Alkoholläden öffneten.



#30
In Phasen der Depression erwog ich bisweilen ganz sachlich die Möglichkeit des Selbstmords, aber ich war noch nicht bereit zu sterben... Außerdem war ich sicher, dass unmittelbar nach meinem Tod eine Behandlung für Alkoholismus entdeckt werden würde. Und so klammerte ich mich immer noch verbissen an das Leben und an eine schwache Hoffnung auf Genesung.



#31
Es gibt Zeiten beim Trinken, da macht der Alkohol euphorisch. Man glaubt, man könnte alles tun, aber das ist natürlich eine Illusion. Ich hörte mir Aufnahmen von mir an, als ich betrunken Klavier gespielt hatte, nicht nur mit ein paar Drinks, und es war nichts, worauf ich hätte stolz sein können. Aber die Euphorie war eine große Erleichterung, solange sie anhielt.



#32
Die Abläufe waren in allen Krankenhäusern gleich, keines war angenehmer als die anderen. Zur Entgiftung eingelieferte Alkoholiker werden in einem Krankenhaus nicht mit der gleichen Sorge und dem gleichen Mitgefühl behandelt wie andere Patienten.



33
Und auf der Entgiftungsstation einer Großstadtklinik verbringt man unter Umständen die Nacht mit einigen ziemlich seltsamen und Angst einflößenden Gestalten.



#34
Und wie in jeder anderen Entzugsklinik, die ich kennenlernte, mit Ausnahme von Clear Spring, gab es in High Watch Farm keine Einzelzimmer. Ich teilte mir ein Zimmer mit einem jungen Schwarzen namens Charles, der wegen Kokainabhängigkeit behandelt wurde.



#35
Ich fand, dass es keinen Grund gab, meinen neuen Sponsor noch am selben Tag anzurufen und ihm mitzuteilen, dass ich aus der Entzugsklinik zurück war. Ich konnte ihn auch am nächsten Tag anrufen und sagen, ich sei gerade erst wieder da, ein Tag spielte doch keine Rolle. Unterdessen konnte ich meine Heimkehr mit einem doppelten Wodka Tonic feiern. Ich hatte einen Drink verdient.



#36
Den Zyklus von Entzug und Rückfall hatte ich nun viermal erlebt und sah das Muster dahinter. In der Klinik entfiel der normale Stress, das brachte Ruhe und nährte die Hoffnung, das Schlimmste wäre vorüber. Aber die Klinik war nicht die reale Welt. Sobald ich in meiner normalen Umgebung zurück war, holte mich früher oder später – eher früher als später – wieder die Tatsache ein, dass es keine Behandlung für Alkoholismus gab und keine wirksamen Medikamente gegen meine Ängste.



#37
Nach meinem ersten Vollrausch nach dem Aufenthalt in High Watch Farm zog ich über meine Situation Bilanz und wurde den Gedanken nicht mehr los, dass das, was ich von meinem Ärzten und in den Kliniken hörte, medizinisch lückenhaft sein musste. Die Befreiung von einer Sucht konnte nicht nur eine Frage von spiritueller Bewusstheit, moralischer Stärke und Willenskraft sein. Es musste eine biologische Komponente geben, die man mit Medikamenten angehen konnte. Und damit stand ich wieder genau da, wo ich gestanden hatte, als mein Alkoholismus begann. Ich konnte nur durchhalten und auf eine neue Heilmethode hoffen.



#38
Damals hatte ich zwei Arten von Gesprächen mit den Therapeuten im ambulanten Programm von St. Luke’s-Roosevelt und mit meinen Ärzten. Wenn ich trank, fragten sie: »Was glauben Sie, warum sind Sie diesmal rückfällig geworden?« Nie konnte ich eine Antwort geben, die sie oder mich befriedigte. Rückblickend sage ich, dass eine befriedigende Antwort einfach nicht existierte. Die Frage wäre nur sinnvoll, wenn Alkoholismus keine biologische Störung wäre, sondern ein rein spirituelles Problem. Es ist, als würde man einen Krebspatienten fragen: »Warum ist Ihr Krebs zurückgekommen? Haben Sie eine negative Einstellung?«



#39
Die Wahrheit lautete, dass Alkohol zwar ein Gift sein mochte, aber ich mich nie besser fühlte, als wenn ich Alkohol getrunken hatte. Er beruhigte meine Ängste und gab mir ein Selbstbewusstsein, das sonst außerhalb meiner Reichweite lag.



#40
Aus meinen Gesprächen mit anderen Alkoholikern bei den AA, in dem ambulanten Programm im Krankenhaus und in allen möglichen Entzugskliniken wusste ich, dass sie das Suchtmittel nicht nur zur Erzeugung euphorischer Gefühle konsumierten, sondern um seelische Schmerzen zu betäuben, die schon lange vor ihrer Abhängigkeit bestanden hatten.



#41
Leider verliert Alkohol wie jedes andere Suchtmittel als Medikament gegen Seelen-Not (als Gegensatz zu Seelen-Frieden, wie die AA sagen würden) früher oder später durch übermäßigen Einsatz seine Wirkung. Die Schwelle schwankt, und man kann keine exakte Dosis bestimmen, die wirksam bleiben wird, wie es bei Medikamenten gegen Bluthochdruck, Diabetes und vielen anderen Krankheiten möglich ist.



#42
Ich fand es oft ironisch, wie Menschen mit einer bestimmten Sucht auf andere herabblicken, die von einer anderen Substanz abhängig sind. Die Heroinabhängigen glauben, sie stünden ganz oben in der Hierarchie. Die Kokainabhängigen glauben das auch. Beide Gruppen blicken auf die Alkoholiker herab. Auf der Entgiftungsstation eines New Yorker Krankenhauses hatte ein hübsches Mädchen, eine Straßensängerin, einmal zu mir gesagt: »Du solltest mal Heroin probieren, Olivier. Es ist viel besser für deinen Körper als Alkohol. Mit Heroin kannst du fliegen.«



#43
Auf dem Papier waren wir ein eindrucksvoller Haufen, lauter Eliteuniversitäten und renommierte Lehrkrankenhäuser im Lebenslauf. Wir hatten reichlich Intelligenz und Willenskraft bewiesen, um all das zu erreichen, und wie alle Süchtigen setzten wir unsere Intelligenz auch dazu ein, geschickt mit unserer Sucht umzugehen. Wie einer in der Gruppe sagte: »Wenn wir genauso viel Zähigkeit und Einfallsreichtum in unsere Karrieren investiert hätten wie darin, das nächste Glas oder den nächsten Schuss zu bekommen und immer nur gerade so viel zu nehmen, dass es nicht auffällt, wären wir alle Nobelpreisträger geworden.« (Natürlich werden Süchtige, die nicht gerade Ärzte sind, Ähnliches behaupten.)



#44
Das Bemühen ist oft großartig, aber wenn es scheitert, ist es eine Katastrophe. Einmal schilderte ein Apotheker in einer Gruppentherapiesitzung: »Ich hatte Wodka, aber nur wenig, deshalb spritzte ich mir den Wodka.«



#45
Er erklärte mir: »Wenn du nur eine kleine Menge Alkohol hast und sie trinkst, wird sie im Magen resorbiert und dann über das ganze System verteilt, und du spürst nichts. Wenn du dieselbe Menge spritzt, gibt es dir einen Kick.«
»Oh, danke, so hatte ich das noch nicht betrachtet.« Manche Leute, das wurde mir klar, waren in der Sucht noch weiter gegangen als ich.




#46
Süchtige kämpfen darum, abstinent zu bleiben, unter Schmerzen sammeln sie Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre, in denen sie nüchtern waren, aber das rechnet ihnen niemand an, wenn das Verlangen sie überwältigt und die Abstinenz endet.



#47
Alkoholiker und andere Suchtkranke leben in einem biologischen Gefängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt.



#48
... Erpressung und Schocktherapie könnten akzeptabel sein, wenn sie hilfreich wären. Tatsächlich aber sind solche Worte Tritte gegen jemanden, der am Boden liegt, als könnte man mit Tritten den Betreffenden bewegen, dass er aufsteht und geht. Und wenn er oder sie es nicht kann?



#49
Und was meinen Vater anbetrifft, meinen strahlenden, gut aussehenden Vater: Egal, wie erfolgreich ich werden würde, ich konnte nie hoffen, ihn zu erreichen. Er war ein vollendeter Musiker und ein hochkultivierter Intellektueller, und was Erfolg in der Welt anbetrifft, so hatte er seine Fähigkeiten in Krieg und Frieden bewiesen durch seinen ausgezeichneten Dienst in der französischen Armee und durch bahnbrechende Leistungen für die französische Wirtschaft und den Außenhandel nicht nur als Geschäftsführer des Unternehmens Helena Rubinstein, sondern später, einige Jahre nach seinem Rückzug dort, in gleicher Funktion in dem großen Modehaus Balenciaga, dem er nach schwierigen Zeiten wieder auf die Beine half. Und als er 1991 starb, pries ihn überdies ein vielstimmiger Chor als »tzaddik«, als einen Gerechten.



#50
Meine Wut auf meine Familie, vor allem auf meine Geschwister, führte zu einem Bruch zwischen uns, der schmerzhaft lange anhielt. Erst vor Kurzem habe ich aus Gesprächen mit Jean-Claude und Eva erfahren, dass meine Einweisung nicht geplant gewesen war. Meine Mutter hatte sie spontan organisiert aus Verzweiflung, weil ich einfach aus der Praxis des Psychiaters weggelaufen war.



#51
Ich dachte: Diese Krankheit hat einige der willensstärksten und klügsten Menschen auf der Erde umgebracht und stellt eine Herausforderung für die besten Forscher und Praktiker auf diesem Gebiet dar. Wie soll ausgerechnet ich die Antwort finden?


#52
Und was meinen Vater anbetrifft, meinen strahlenden, gut aussehenden Vater: Egal, wie erfolgreich ich werden würde, ich konnte nie hoffen, ihn zu erreichen. Er war ein vollendeter Musiker und ein hochkultivierter Intellektueller, und was Erfolg in der Welt anbetrifft, so hatte er seine Fähigkeiten in Krieg und Frieden bewiesen durch seinen ausgezeichneten Dienst in der französischen Armee und durch bahnbrechende Leistungen für die französische Wirtschaft und den Außenhandel nicht nur als Geschäftsführer des Unternehmens Helena Rubinstein, sondern später, einige Jahre nach seinem Rückzug dort, in gleicher Funktion in dem großen Modehaus Balenciaga, dem er nach schwierigen Zeiten...



#53
In meinen Rauschzuständen war ich selbstgerecht und paranoid. Ich wütete mit Worten gegen meine Mutter – und meinen Bruder, meine Schwester und gute Freunde. Wenn meine Mutter mich drängte, nicht zu trinken, sagte ich Dinge wie: »Du bist intolerant. Du bist wie die Nazis.«



#54
Ein paar Stunden später erwachte ich in einem Pariser Krankenhaus, wo ich einen Teil meiner praktischen Ausbildung absolviert hatte.

Ich sagte, ich wolle wieder nach Hause. »Das geht nicht«, erklärte man mir. »Das ist die psychiatrische Station, und Sie sind hier als HDT.«

»Wovon reden Sie?« HDT war die Abkürzung für hospitalisation à la demande d’un tiers, Einweisung auf Antrag eines Dritten. Eine solche Maßnahme verlangt die Unterschriften eines Angehörigen und zweier Ärzte und bedeutet, dass die betroffene Person als Gefahr für sich selbst oder andere betrachtet wird. Nicht einmal ein Jahr nachdem ich dank meiner Freunde zwangsweise in einer psychiatrischen Station in New York gelandet war, passierte mir in Paris dank meiner Familie das Gleiche.




#55
Das stürzte mich in tiefe Verzweiflung und zerstörte jegliches Vertrauen zwischen mir und meiner Familie.



#56
Meine Wut auf meine Familie, vor allem auf meine Geschwister, führte zu einem Bruch zwischen uns, der schmerzhaft lange anhielt. Erst vor Kurzem habe ich aus Gesprächen mit Jean-Claude und Eva erfahren, dass meine Einweisung nicht geplant gewesen war. Meine Mutter hatte sie spontan organisiert aus Verzweiflung, weil ich einfach aus der Praxis des Psychiaters weggelaufen war...



#57
Die Wahrheit lautet, dass meine Mutter und meine Geschwister nichts hätten tun können, um mich von meinem schweren Alkoholismus zu heilen. Was ich von ihnen brauchte und was die Angehörigen aller Suchtkranken nur so schwer in einer Weise geben können, dass der Suchtkranke es annehmen kann, waren Liebe und Mitgefühl.



#58
Mir war seit Langem klar, dass Alkoholiker und andere Abhängige nicht mit dem üblichen Maß an Mitgefühl und Fürsorge rechnen können, wenn sie medizinische Hilfe brauchen.



#59
...und ich las fasziniert, was die Psychologin Dr. Anna Rose Childress, die sich an der University of Pennsylvania mit Suchterkrankungen befasste, bei ihren Untersuchungen mittels Positronenemissionstomografie (PET) herausgefunden hatte: Bei einem kokainabhängigen Patienten, dem gegen Krämpfe das Muskelrelaxans Baclofen verabreicht wurde, zeigte sich eine deutliche Dämpfung der Gehirnaktivität. Der Patient berichtete, sein Verlangen nach der Droge habe stark nachgelassen.



#60
Ich wollte mir keine falschen Hoffnungen machen, aber ich stellte mir die Frage: Konnte Baclofen mir helfen, mit dem Trinken aufzuhören?



#61
Drei Dinge ermutigten mich, als ich den Artikel in der New York Times über die Wirkungen von Baclofen bei einem abhängigen Patienten erneut las – mit klarem Kopf, zwischen zwei Alkoholabstürzen.

Erstens dämpfte Baclofen im Versuch das Craving bei dem Patienten, einem kokainabhängigen Paraplegiker, und zwar nicht nur das Verlangen nach Kokain, sondern auch nach Alkohol und Nikotin.

Zweitens veränderte das Baclofen die Neurotransmissionsmuster im Gehirn des Patienten so, dass es auf den PET-Aufnahmen zu sehen war, und zwar beruhigte sich die Aktivität im Mandelkern, der Amygdala. Studien bringen den Mandelkern mit Erinnerungen an angenehme Ereignisse in Verbindung und mit dem Verlangen nach oder der Antizipation von verschiedenen abhängig machenden Substanzen und zwanghaften Verhaltensweisen.

Drittens löste das Baclofen die Muskelkrämpfe des Patienten – dafür war das Medikament ursprünglich verschrieben worden.




#62
Die Frage ist: Kommt die Erregung von der Sucht, geht sie ihr voraus, oder tritt beides gleichzeitig auf? Ich hörte immer von anderen bei den AA, dass sie sich niemals gut gefühlt hatten, entspannt, wohl in der eigenen Haut, bis sie zu trinken begannen. Mir ging es genauso, und mein Verdacht ist, dass chronisches körperliches Unbehagen Suchtverhalten auslöst und durch diesen misslungenen Versuch der Selbstmedikation wiederum verstärkt wird.



#63
In den nächsten Tagen schwirrte mir der Kopf vor Aufregung wegen des Baclofen – und vor Angst. Was, wenn das nur eine weitere Sackgasse bei meiner Suche nach einer Behandlung war? Zwei Fragen verfolgten mich: War Baclofen in Frankreich erhältlich? Und war es sicher? Ich wollte Childress anrufen und ihr die Fragen stellen, fürchtete aber, nicht ernst genommen zu werden, wenn ich wegen mir selbst fragte.



#64
Am nächsten Morgen nahm ich all meinen Mut zusammen und rief Childress an, durch den Zeitunterschied zwischen Paris und Philadelphia zu einem Zeitpunkt, als ich noch verkatert war. Ich stellte mich als Kardiologe vor, der einen alkoholabhängigen Patienten hatte, sagte, ich sei auf den vor einem Jahr in der New York Times erschienenen Artikel gestoßen, und fragte: »Ist es sinnvoll, Baclofen bei Alkoholabhängigkeit einzusetzen?«

Childress antwortete: »Ich glaube, es gibt da einen Forscher in Rom, Dolo-irgendwas, ich bin mir bei dem Namen nicht ganz sicher, der Baclofen bei Alkoholismus untersucht.«




#65
Eine Sucht isoliert den Betroffenen, und ich fühlte mich sowieso sehr allein auf der Welt. Es war zur Gewohnheit geworden, dass ich Jean-Claude und Eva jeden Sonntag zum Mittagessen mit meiner Mutter traf, und da verstanden wir uns so gut, dass ich dachte, der Bruch zwischen uns sei geheilt. Nach dem Tod unserer Mutter ging ich einige Wochen lang weiter jeden Sonntag in das chinesische Restaurant, in dem wir uns immer verabredet hatten, doch meine Geschwister erschienen nicht mehr. Ich war schockiert und verletzt. Es war mir unmöglich, sie anzurufen. Ich dachte, sie hätten genug von mir, und war zugleich überzeugt, sie hätten ein Recht dazu – fand es aber auch unfair von ihnen, sich einfach abzuwenden. Die wahren Hintergründe erfuhr ich erst, nachdem es mir wieder gut ging: Sie waren frustriert und wussten nicht, wie sie mir helfen konnten, vor allem nachdem sie von Ärzten hörten: »Lasst Olivier in Ruhe. Er muss erst ganz unten ankommen. Er hat noch nicht genug verloren, um mit dem Trinken aufzuhören.«



#66
Zum Glück hatte ich kurz zuvor jemanden kennengelernt, der mich indirekt auf die Spur zu einigen Antworten lenkte: einen in Paris lebenden Amerikaner namens Alexander. Er sah aus wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris und war ehemaliger Journalist, der jetzt Englischkurse gab.



#67
Die beiden Freundinnen, die mich zu meinem ersten AA-Treffen begleiteten, glaubten es nicht. Die eine war ein langjähriges AA-Mitglied, Dichterin und Schriftstellerin und eine wunderschöne Frau, die ein bisschen aussah wie Katharine Hepburn.



#68
Ich wartete den ganzen Nachmittag. Gegen sechs kam ein 18-jähriger Junge, mit dem ich schon einmal ... , mit seinen Sachen in den Anmeldebereich. Andere Patienten sagten, er sehe aus wie der junge James Caan. Er war wegen eines Kokainproblems in der Klinik gewesen, nicht zum ersten Mal, und durfte jetzt nach Hause.



#69
Dr. T. war ein sehr einfühlsamer, sympathischer Mann mit einem üppigen Bart, der ein bisschen aussah wie Theodor Herzl, der Begründer des Zionismus.



#70
Der Therapeut sah aus wie Albert Einstein mit besonders zerzausten Haaren nach einer schlaflosen Nacht.



#71
Arif war wie eine von Marcello Mastroiani gespielte Figur in einem Fellini-Film: ein Mann, der immer auf der Bühne steht, immer eine Vorstellung gibt, mit einem großartigen Gespür für eine dramatische Geste oder Bemerkung.



#72
Ich schaute vom Klavier auf und blickte Bette Midler an: eine kleine Frau, nicht viel größer als Edith Piaf selbst, die wie eine kleine stille Maus beim Abendessen gesessen hatte. Und dann schob sie ihren Stuhl zurück, stand auf und war wie verwandelt: eine Titanin, die alles Schlimme erlitten hatte, was das Leben bringt, und trotzdem ungebrochen geblieben war.


#73
Zum Glück hatte ich kurz zuvor jemanden kennengelernt, der mich indirekt auf die Spur zu einigen Antworten lenkte: einen in Paris lebenden Amerikaner namens Alexander. Er sah aus wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris und war ehemaliger Journalist, der jetzt Englischkurse gab. [...] Und wie die Figur, die Brando im Letzten Tango verkörpert, stellte Alexander niemals Fragen, wenn ich nach einem Rausch auftauchte.



#74
Panik beeinflusst die GABA-Transmission im Gehirn, und Baclofen ist ein GABA-Agonist: Ich notierte mir den Satz, um der Sache später genauer nachzugehen. Für den Augenblick war ich gefesselt von der Aussage, dass 30 Milligramm Baclofen ausreichten, um das Gefühl von Angst und Panik merklich zu vermindern.



#75
Wenn Baclofen gegen Panik wirkte, warum hatte es mir keiner meiner Ärzte bisher verschrieben? Hatte es womöglich schwere Nebenwirkungen? Natürlich wusste ich als Kardiologe, dass die Ärzte in ihrer Verschreibungspraxis nicht alle potenziell infrage kommenden Medikamente berücksichtigen, sondern dass es von ihrer Ausbildung und von der Werbung der Pharmafirmen abhängt, was sie verschreiben. Ich sage das ganz werturteilsfrei. Es ist eine Tatsache der modernen medizinischen Berufsausübung, die durch zunehmende Spezialisierung und Innovationen der Pharmabranche gekennzeichnet ist, beides mit großem Nutzen für die Patienten. Kein Arzt kann sich über alle Entwicklungen auf den vielen medizinischen Spezialgebieten und über alle verfügbaren Medikamente auf dem Laufenden halten.



#76
In Frankreich können Ärzte mit einem Ausweis des Conseil National de l’Ordre des Médecins (des Nationalen Rates des Ärztestandes) ohne Rezept Medikamente für sich und andere Personen kaufen.



#77
Die Apotheke bestellte das Medikament gern für mich. Am nächsten Tag holte ich mir eine kleine Packung mit 10-Milligramm-Tabletten Baclofen ab, zögerte aber noch, sie zu nehmen.



#78
Am 22. März 2002 begann ich den Empfehlungen von John Schaefer entsprechend mit der Einnahme von Baclofen in der Dosierung von dreimal 5 Milligramm täglich, dafür halbierte ich die Tabletten. Sofort verspürte ich eine Muskelentspannung, die ich geradezu unglaublich fand, und bereits in der ersten Nacht schlief ich wie ein Baby. Nie zuvor hatte ich eine so dramatische Wirkung erlebt, und ich hätte so etwas nie für möglich gehalten.



#79
Im Laufe der nächsten beiden Monate erhöhte ich meine Baclofen-Dosis stetig bis auf 180 Milligramm pro Tag.

Die kurzfristigen Wirkungen verblüfften mich. Meine Muskeln waren vollkommen entspannt, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich schlief ruhig und friedlich wie ebenfalls nie zuvor, wachte morgens frisch und ausgeruht auf ohne die Nachwirkungen von Schlaftabletten. Das Baclofen hielt meine Angst besser unter Kontrolle als die Standardmedikamente. Es reduzierte mein Verlangen nach Alkohol und ermöglichte mir, zwischen zwei Abstürzen länger abstinent zu bleiben. Meine Räusche waren weniger schlimm. Und es beschleunigte die Erholung nach einem Rausch und linderte Entzugserscheinungen besser als Benzodiazepine, ohne deren Suchtpotenzial und beeinträchtigende Nebenwirkungen.




#80
Ein Merkmal, das Abhängigkeit von der großen Mehrzahl anderer Krankheiten unterscheidet, ist, dass sie symptomgetrieben und symptomabhängig ist. Bei der Sucht sind die Symptome die Krankheit.

Bei nahezu allen anderen Krankheiten treiben nicht die Symptome die Krankheit voran. Oft können Symptome, wenn sie auftreten, unterdrückt werden, während die Krankheit selbst weiter im Körper wütet. Man denke nur an das Fieber bei Tuberkulose, die Bauchschmerzen bei Bauchspeicheldrüsenkrebs, die Brustenge bei schwerer koronarer Herzkrankheit. Die Symptome zurückzudrängen bedeutet nicht, die Krankheit aufzuhalten.




#81
In anderer Hinsicht ist Craving allerdings ein höchst umstrittenes Thema der Suchtforschung. Manche Forscher argumentieren, es sei ein zu diffuses Konzept und habe deshalb keinen praktischen Wert. Dazu kann ich nur sagen: Wie Schmerzen ist es nur dann diffus, wenn man nicht daran leidet.



#82
In anderer Hinsicht ist Craving allerdings ein höchst umstrittenes Thema der Suchtforschung. Manche Forscher argumentieren, es sei ein zu diffuses Konzept und habe deshalb keinen praktischen Wert. Dazu kann ich nur sagen: Wie Schmerzen ist es nur dann diffus, wenn man nicht daran leidet.



#83
Nach meiner Erfahrung ist verstärkte kognitive Leistungsfähigkeit eine Wirkung von Baclofen, die genauer untersucht werden sollte. Selbst wenn Baclofen mich ermüdete, war ich erstaunt über die Klarheit meines Geistes. Es gab keine »parasitären« Gedanken, die sich einmischten, wie es regelmäßig bei Abhängigkeit der Fall ist.)



#84
Ich dachte: Das ist entweder ein Märchen oder ein Traum. Im nächsten Augenblick wird der Zauber brechen, und ich werde mit dem schrecklichen Bedürfnis zu trinken aufwachen.

Es geschah nicht.




#85
Das Gefühl, ich befände mich in einem Märchen oder Traum, blieb noch eine ganze Weile bestehen. Ich traute der Sache nicht richtig, denn ich erlebte etwas, das man bei einem Alkoholiker oder sonstig Süchtigen für unmöglich hält: komplette Freiheit von Suchtdruck.



#86
Das übliche Kriterium, um zu sagen, dass ein Alkoholiker oder Süchtiger gesund ist, ist Abstinenz: erfolgreich dem Verlangen nach Alkohol oder einem anderen Suchtmittel zu widerstehen. Ich war Alkohol gegenüber in diesem Sinn nicht abstinent – ich war vollkommen und mühelos gleichgültig.



#87
Vorläufig entschied ich, meinen Namen in dem Fallbericht zu nennen, um maximale Wirkung zu erzielen. Wenn ich meine Identität enthüllte, würde das auch zum Ausdruck bringen, dass all jenen, die an einer Abhängigkeit leiden, die gleiche Würde und der gleiche Respekt zustanden wie Patienten mit anderen Krankheiten.



#88
Mein Blick blieb an dem Satz hängen: »Dr. S. wird mit Ihnen über den weiteren Verlauf Ihres Falles in Kontakt bleiben.« Das klang sehr danach, als würde der Chef der Abteilung mein Paper nicht ernst nehmen und mich nur als einen vorübergehenden Alkoholiker ansehen. Es folgte ein ohrenbetäubendes Schweigen. Mit Ausnahme von Giovanni Addolorato und einigen wenigen Kollegen von ihm in Italien schien niemand innerhalb und außerhalb des Gebiets der Forschung und Behandlung von Suchterkrankungen auch nur das geringste Interesse an dem ersten unabhängig begutachteten Bericht über die vollständige Unterdrückung der tödlichen Krankheit Alkoholismus und Linderung der Komorbidität Angst zu haben. Ich machte mir langsam Sorgen, dass mein Fallbericht ignoriert werden könnte und dass er womöglich zu Recht ignoriert wurde, weil er tatsächlich unbedeutend war.



#89
Nun waren wir schon drei Menschen und ein paar Laborratten, die auf Baclofen ansprachen.



#90
Bei der ESBRA-Tagung bekam ich auch Gelegenheit, Jonathan Chick persönlich kennenzulernen, den Mann, dem ich die Veröffentlichung meines Fallberichts verdankte. Wir unterhielten uns sehr herzlich. »In der Medizin«, meinte er, »kann es bis zu einer Generation dauern, bis ein neuer Ansatz akzeptiert ist.«



#91
Wenn Herr A. trank, erlebte er nur eine leichte Euphorie und wollte nie mehr als drei Drinks auf einmal. Damit blieb er deutlich unter der Schwelle von fünf Drinks, die bei einem Mann als diagnostisches Kriterium für problematisches oder Rauschtrinken gewertet werden – und erheblich unter den gefährlichen Mengen, die er früher konsumiert hatte.

Herr A. informierte mich direkt über eine weitere Veränderung, die zu seinem Wohlbefinden beitrug: Seit er nicht mehr alkoholabhängig war, hatte sich die Beziehung zu seiner Frau erheblich verbessert, und er fürchtete nicht mehr um den Fortbestand seiner Ehe.




#92
Baclofen hatte mich nicht nur aus dem biologischen Gefängnis der Abhängigkeit befreit, sondern auch von der lähmenden Angst, die ihr vorausgegangen war, und nun fühlte ich mich mit mir selbst und mit anderen wohl. Endlich war ich die Person, die ich immer schon hatte sein wollen.



#93
Hoch dosiertes Baclofen besitzt anscheinend die einzigartige Fähigkeit, schlagartig und mühelos zu Abstinenz zu führen.




#94
Wie genau Baclofen das Craving unterdrückt und die zugrunde liegende Dysphorie lindert, muss erst noch durch weitere Forschungen geklärt werden. Aber wichtige Teile der Antwort wurden bereits gefunden. Baclofen beeinflusst die Neurotransmitter Dopamin, GABA und Glutamat. Es verstärkt die GABA-Aktivität, reduziert Glutamat und reduziert auf diesem Weg auch Dopamin.9 Dadurch scheint es ausgleichend auf die Belohnungsmechanismen des Gehirns zu wirken.




#95
Die Kosten-Nutzen-Kalkulation für die Gesellschaft sieht vollkommen anders aus. Die Summe, die nötig ist, um einen statistisch aussagefähigen Versuch mit hoch dosiertem Baclofen bei Alkoholmissbrauch zu finanzieren, würde sich auf rund eine halbe Million Dollar belaufen. Das ist ein Bruchteil dessen, was Regierungen und Unternehmen für Morbidität und Mortalität infolge von Alkoholabusus, der häufigsten Suchterkrankung, aufwenden müssen. Jedes Jahr sterben allein in den Vereinigten Staaten über 100.000 Menschen aus Gründen, die mit Alkohol zu tun haben, das sind rund 270 Menschen pro Tag. Weltweit sterben alljährlich zwei Millionen daran. Die finanziellen Kosten durch Arbeitsausfälle, Krankenhauseinweisungen, Aufenthalte in Suchtkliniken und andere Behandlungen wurden allein für die Vereinigten Staaten auf beinahe 200 Milliarden Dollar jährlich beziffert. Ähnliche Kosten entstehen durch andere Suchtmittel.




#96
In höchster Verzweiflung hatte eine Patientin einmal ausgerufen: »Warum hat Gott mir nicht Brustkrebs geschickt? Dann würden mich wenigstens meine Kinder besuchen kommen!«




(wird fortgesetzt...)
Hiermit habe ich das letzte Zitat auch noch eingefügt und beende den Artikel endlich. (15. 8. 2013)

Liebe Grüße.
Loki
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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon GoldenTulip » 26. April 2013, 07:06

Hallo Loki,

erstmal tausend Dank für die Schreibarbeit und dass Du wirklich interessante Stellen rausgesucht hast.

Wenn wir über den einen oder anderen Punkt diskutieren/ kommentieren wollen, wäre es hilfreich, wenn Du die Zitate noch durchnummerieren würdest ?!! (Äh, ja und falls machbar in Klammern noch die Seitenzahl im Buch dahinter).
Letzteres ist nicht ganz so wichtig, würde aber helfen, wenn einen ein Thema interessiert und man den Kontext lesen möchte,

LG Conny
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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Loki » 26. April 2013, 15:35

Hallöchen [hi_bye]

Okay, Zitate durchnummerieren ist einfach. Wird gemacht. [good]

GoldenTulip hat geschrieben:(Äh, ja und falls machbar in Klammern noch die Seitenzahl im Buch dahinter)...

Da glaube ich, dass sich die Buchausgabe von der E-Book-Ausgabe unterscheidet. Ich kann also nur die Seiten der E-Book-Ausgabe hinschreiben. Habe ich spaßeshalber mal im ersten Zitat gemacht. Doch wie man schon sehen kann, unterscheiden sich die Seitenangaben gewaltig. Kommt eben drauf an, wie der E-Book-Reader zählt. Wird wohl von Reader zu Reader unterschiedlich sein.
Aber ich lasse es erst mal so stehen. Wäre ja mal interessant zu wissen, wie es bei anderen Readern aussieht und inwiefern sich die Buchausgabe vom E-Book unterscheidet. Info dazu würde ich gut finden.

Liebe Grüße.
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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Don » 26. April 2013, 18:49

Hardcover-Ausgabe
#1 S.19
#2 S.22
#3 S.29

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon DonQuixote » 26. April 2013, 18:54

Hi Loki

Von Reader zu Reader weiß ich nicht, aber mein Reader zu meinem Buch (Papier) unterscheidet sich schon sehr. :-|

Ich benutze den kostenlosen Ebook-Reader von Adobe, nicht zu verwechseln mit dem Acrobat-Reader, denn der geht ja nicht. Wenn Du einen anderen Ebook-Reader benutzt, kannst Du ja mal posten, was z.B. zu Beginn Deiner Seite 52 steht.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Don » 26. April 2013, 19:12

Zitat #1 sehe ich übrigens als nicht zulässige Verallgemeinerung des Herrn Ameisens an. Die Schulmedizin gibt sehr wohl zu, Krankheiten nicht heilen zu können auch unabhängig von der "Motivation" des Patienten. Es werden einige Beispiele aus recht erfolgreichen aber dennoch fiktiven Geschichten genannt. Das einzige dort genannte Sachbuch (v. Susan Sontag) klagt weniger die Medizin denn die gesamte Gesellschaft in ihrer Sichtweise an.
Fazit: Argumentativ fragwürdig (bezogen lediglich auf das 1. Zitat!)

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Loki » 26. April 2013, 19:53

DonQuixote hat geschrieben:Wenn Du einen anderen Ebook-Reader benutzt, kannst Du ja mal posten, was z.B. zu Beginn Deiner Seite 52 steht.


Da steht Folgendes:


im trinken, um zu sehen, ob mir das ermöglichte... (PRS-T2)

in Paris zu gehen und dort die Erholung zu finden, die bei meinem zweiten Aufenthalt in Clear Spring so abrupt unterbrochen worden war.... (Adobe Digital Editions)

Entdeckungen, Erfindungen und technische Entwicklungen. (Calibre)

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon DonQuixote » 26. April 2013, 20:59

Hi Loki

Angaben der Seitennummern in den verschiedenen Readern musst Du nicht machen. Es gibt ja die Suchfunktion, mit deren Hilfe man die Textstellen im Nu finden kann.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon GoldenTulip » 26. April 2013, 21:07

ja Loki, dass war ne Schnapsidee von mir mit den Seitenangaben, ich war gedanklich analog unterwegs- ich habe noch dieses viereckige Ding mit den vielen Seiten drin bei mir stehen und hab nicht an das e-book-Format / pdf gedacht [blus]

sry Conny
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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon DonQuixote » 26. April 2013, 21:22

Hi Don

Don hat geschrieben:Zitat #1 sehe ich übrigens als nicht zulässige Verallgemeinerung des Herrn Ameisens an. Die Schulmedizin gibt sehr wohl zu, Krankheiten nicht heilen zu können auch unabhängig von der "Motivation" des Patienten. Es werden einige Beispiele aus recht erfolgreichen aber dennoch fiktiven Geschichten genannt. Das einzige dort genannte Sachbuch (v. Susan Sontag) klagt weniger die Medizin denn die gesamte Gesellschaft in ihrer Sichtweise an.
Fazit: Argumentativ fragwürdig (bezogen lediglich auf das 1. Zitat!)

Ameisen schreibt dann weiter, Du kennst es bereits, ich zitiere, damit auch die Anderen den Zusammenhang haben:

Das Ende meiner Sucht hat geschrieben:Im 19. Jahrhundert wurde die Tuberkulose, zumindest soweit sie das Establishment betraf, in Romanen und Opern mit Personen von zweifelhafter Moral oder Zurechnungsfähigkeit in Verbindung gebracht. Man denke nur an Fantine, die ledige Mutter, die zur Prostituierten wird, in Victor Hugos Les Misérables; an den geistig verwirrten Revolutionär Kirillow in Dostojewskis Die Dämonen; oder an die Kurtisane Violetta in Verdis La Traviata. Susan Sontag hat in ihren Büchern Krankheit als Metapher und Aids und seine Metaphern die dabei wirksame Dynamik im Hinblick auf Krebs und Aids eindrücklich geschildert.

Es war ja nicht nur die „Medizin“, sondern es waren vielmehr Mediziner, die die jeweiligen gesellschaftlichen Strömungen, und da haben auch die Religionen stets kräftig mitgemischt, dann aufnahmen sowie mit- und weitertrugen.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Don » 26. April 2013, 22:01

DonQ: Was Du sagst mag durchaus richtig sein, dennoch läßt es nicht eine derartige Verallgemeinerung zu. Man kann ja gerne sein Missfallen über derartige Sichtweisen äußern, aber halt nicht mit einem derartigen Rundumschlag. Das ist recht schade, da dadurch der Wert der ganzen argumentativen Gedankenkette in Frage gestellt wird. Hier wäre weniger ("Medicine-bashing") einfach mehr gewesen.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Loki » 27. April 2013, 00:44

Hallöchen [hi_bye]

Ich werde dann die Seitennummern doch nicht alle hinschreiben. [dance]

GoldenTulip hat geschrieben:ich habe noch dieses viereckige Ding mit den vielen Seiten drin

Wie uncool! Dann hast Du bestimmt auch noch Schallplatten statt CDs [blum]

(Kleiner Scherz.)

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon GoldenTulip » 27. April 2013, 06:00

@loki
Nu bist Du ein wenig retro: Ich pflege meine Audiodateien mittlerweile als mp3 zu speichern, CDs nehmen zuviel Platz weg - den brauch ich für meine Bücher.

On topic:

Don hat geschrieben:Zitat #1 sehe ich übrigens als nicht zulässige Verallgemeinerung des Herrn Ameisens an. Die Schulmedizin gibt sehr wohl zu, Krankheiten nicht heilen zu können auch unabhängig von der "Motivation" des Patienten.


Ich bin mir nicht sicher, ob es an dieser Stelle sinnvoll ist, die Weltsicht und politische Statements von Ameisen zu diskutieren. Von mir aus darf er glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

Dass Baclofen als Medikament gegen Suchtdruck weder medizinisch, politisch und in Folge dessen auch gesellschaftlich nicht durchsetzbar scheint, ist für damals noch erklärlich, hier liegt ja der Verdienst der Pionierabeit Ameisens im Selbstversuch. Das dann noch als Betroffener, als süchtiger Arzt zu publizieren verdient Hochachtung. Und dem gilt auch mein persönlicher Dank.

Heutzutage ist es ein Skandal, dass ein hochwirksames Medikament aus wirtschaftlichen und politischen Erwägungen heraus vorenthalten wird. Alkoholismus hat eine Funktion im gesellschaftlichen Gefüge, bei der der Nutzen für die "Herrschenden" (bitte systemisch verstehen!) die Kosten zu überwiegen scheint.

Die Zusammenhänge zwischen Angst und Sucht, die Auswirkungen von Baclofen auf ihn, die er beschreibt, sind greifbarer meine ich.
Die eigenen Erfahrungen, die wir hier je mit Bac gemacht haben, damit abzugleichen, fände ich produktiver.

Mich hat bei dem Buch insgesamt die drastische Schilderung seiner Verzweiflung, der ermüdenden, vergeblichen Versuche, vom Alkohol wegzukommen und die unglaubliche Hoffnung, als es endlich einen Ausweg zu geben scheint, mitgerissen.
Ich hätte es nie gewagt, Heilung bei mir für möglich zu halten ohne das Buch. Und ohne diese Hoffnung hätte ich selbst nicht angefangen, mich meinem Lebensthema Alkoholmissbrauch zu stellen. Und so liegt der Wert des Buches für mich eben dort.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon DonQuixote » 27. April 2013, 17:09

Hallo zusammen

Was manchmal vergessen geht, sind die Umstände, die ihn dazu bewegt haben, das Buch zu schreiben. Seit 2004 empfahl er wiederholt, in Fachgesprächen, Vorträgen, auch in Fachzeitschriften (Alcohol and Alkoholism, JAMA 2005, Lancet 2009), randomisierte, kontrollierte klinische Studien durchzuführen. Doch nichts geschah. All seine erfolglosen Bemühungen sind in der gedruckten Buchausgabe ab Seite 227 ausführlich beschrieben. An anderer Stelle schrieb er:

Olivier Ameisen hat geschrieben:Professor Jerome Posner, lebende Legende auf dem Gebiet der Neurologie, sagte schon 2008 voraus, dass die Mund-zu-Mund Propaganda der entscheidende Faktor für die Verbreitung meiner Entdeckung sein wird.

Genau deshalb hat Olivier Ameisen das Buch geschrieben, weil von den üblichen Verdächtigen (Universitäten, Pharma- und Suchthilfeindustrie, medizinische Fachverbände etc.) keinerlei Unterstützung kam.

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Marlti » 21. Juni 2013, 11:25

Das ist mal ein super Lesetipp, mir hat das noch gar nichts gesagt, aber ich lege mir das Buch jetzt zu! Eine Bereicherung für meine Bibliothek in meiner kleinen Wohnung lach* :)

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Papfl » 21. Juni 2013, 11:42

@ Marlti

Vielleicht hat Dein Bruder ja auch Lust, mal einen Blick reinzuwerfen... :wink:

Könnte ein Anfang sein!

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„Der Hori­zont vie­ler Men­schen ist wie ein Kreis mit Radius Null. Und das nen­nen sie dann ihren Stand­punkt."
Albert Ein­stein (1879 - 1955)

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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon GoldenTulip » 21. Juni 2013, 11:44

Hallo Martin,

möchtest Du über Deinen Bruder reden, oder liegt Dir aktuell etwas anderes auf der Seele? Du bist ja auf Wohnungssuche, wenn ich den Link richtig interpretiere.
Du musst nicht selbst Trinken, um hier etwas schreiben zu dürfen...

LG Conny
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Re: Buchbesprechung: Olivier Ameisen - Das Ende meiner Sucht

Beitragvon Loki » 8. August 2013, 10:25

Ich muss mich wohl mal ranmachen und die restlichen Zitate oben (gaanz oben) auch noch hinschreiben.
Fertig.
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