Meine Definition steht nach wie vor: Solange jemand nicht unter etwas leidet, sich nicht in seinem Wohlbefinden eingeschränkt fühlt, keine (sozialen) Nachteile in Kauf nehmen muss oder seiner Umwelt massiven Schaden zufügt, ist er/sie subjektiv (und eigentlich auch objektiv) gesehen nicht krank. Denn was ist schon normal?
Wenn eine Witwe sich jeden Tag darüber freut, die Stimme ihres verstorbenen Ehemannes zu hören, der ihr zuflüstert: "Liebling, mach Du bitte weiterhin etwas aus Deinem Leben, auch wenn ich nicht mehr da bin. Genieße es, gehe reisen" - die Engländer haben da so einen schönen Ausdruck: "Enjoy yourself!" - dann könnte man die Dame schulmedizinisch durchaus als schizophren und damit als krank abstempeln und mit Neuroleptika oder ähnlichem behandeln.
Solange diese Dame nicht sich selbst oder anderen Menschen mit ihren "Zwiegesprächen" in die Quere kommt, wer bin ich, wer sind wir Therapeuten/Mediziner, sie davon erlösen zu müssen? Die Frau wäre vermutlich totunglücklich, eines morgens aufzuwachen und die Stimme ihres geliebten Mannes plötzlich nicht mehr zu hören...
Anders wäre es natürlich, wenn jemand sich von fremden Stimmen terrorisiert fühlt, Angst bekommt, aggressiv wird, also darunter leidet...dann macht es schon Sinn, pharmakologisch einzugreifen.
Medizin/Therapie muss m. E. immer individuell bleiben und darf nicht zu strikten Formeln/Gesetzen verkommen (Diagnose --> Therapie = Gesetz). Man sollte auch immer den Menschen hinter der Diagnose sehen.
Daher habe ich auch überhaupt kein Problem damit, wenn Du (@GoldenTulip) für Dich entscheidest: Alkohol ist für mich ab und zu vollkommen okay, Mittel zum Zweck, zur Selbstfindung, zum "in Einklang mit mir selbst" kommen, was auch immer...solange Du (und Dein Umfeld) unter dieser Situation nicht leiden, ist alles gut. Da macht auch Therapie keinen Sinn. Wieso soll ich jemanden therapieren, der gerne so lebt, wie er/sie eben lebt? Therapie brauche ich dann, wenn die Art und Weise, wie ich lebe, mir bzw. anderen zu schaffen macht, Nachteile bringt, mich einschränkt, Freiheit raubt, mich leiden lässt, krank macht etc..
Nur: Für viele Menschen ist Alkohol - zumal im fortgeschrittenen Stadium - halt immer auch sofort mit Leid verbunden. Sie verlieren ihren Job, ihre Beziehung, ihre Gesundheit, ihr Selbstwertgefühl, bekommen Ängste, werden unfrei, aggressiv...von den körperlichen Schäden ganz zu schweigen...und da ist es dann schon angebracht, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen, aus diesen verzwickten Situationen wieder raus zu kommen, das individuelle Leben wieder lebenswert zu machen.
Deine Ausgangsfrage nach dem hat damit allerdings recht wenig zu tun: Wenn das MEOS so augeprägt ist, dass sich kein Rauschgefühl mehr einstellt, hat ein Wirkungstrinker quasi die A....karte (Sorry!) gezogen. Das ist - vereinfacht gesagt - Toleranzentwicklung im Endstadium. Wobei sich die MEOS-Geschichte vorwiegend auf den Stoffwechsel (Enzyme) bezieht.
Bei der Toleranzentwicklung muss der Betroffene immer mehr trinken, um die gleiche Wirkung zu erzielen...war man anfangs noch nach einer halben Flasche Sekt berauscht, braucht man irgendwann eine ganze, dann zwei, drei...um gut drauf zu sein. Das liegt - ganz vereinfacht gesagt - daran, dass sich im Glutamatsystem die Rezeptoren vermehren. Du musst quasi immer mehr davon mit "Stoff abfüllen", um die berauschende Wirkung zu erzielen.
Das MEOS indes "frisst" Dir quasi den Alkohol weg, bevor er überhaupt wirken kann. Soll heißen: Du kannst gar keinen Rausch mehr bekommen, weil Dein Körper "so trainiert" ist, dass er alle "berauschenden" Elemente wegschnappt, bevor sie für ein gutes Gefühl sorgen können. Anschaulich erklärt könnte man sagen, dass Du auch nach drei Flaschen Sekt nicht betrunken wirst, weil die ersten anderthalb schon wieder verstoffwechselt sind. Du kommst also mit Trinken gar nicht nach, weil Dein Körper schneller "abbaut" als Du nachtanken kannst. Das Gift freilich bleibt im Körper. Man fällt also nach viel Alkoholkonsum quasi mehr oder weniger "vergiftet"/ohnmächtig um, ohne überhaupt etwas von der "positiven", stimmungsaufhellenden Wirkung mitbekommen zu haben. Kurzum: Alkohol zu trinken wird komplett sinnlos. Und nicht nur das. Das MEOS schnappt sich auch alle anderen Drogen. Die Zeiten, in denen man sich "künstlich" Glücksgefühle erzeugen konnte, sind quasi vorbei. Für immer: Denn das MEOS - einmal ausgebildet - bleibt ein Leben lang aktiv.
Deshalb ist ein ausgeprägtes MEOS Fluch und Segen zugleich: Trinken wird obsolet, weil komplett sinnlos. Man kann quasi gleich abstinent leben, weil die Wirkung von Alkohol (bis auf die toxische) gleich null ist. Solchen Menschen bleibt also gezwungener Maßen nichts anderes übrig, als die "anstrengende" Suche nach Alternativen, anderen Kicks, wenn sie in ihrem Leben einigermaßen glücklich und fröhlich sein wollen. Oder eben für den Rest des Lebens "miesepetrig" durch die Gegend zu rennen. Abstinenz wird quasi - um diesen abgelutschten Begriff zu bemühen - alternativlos.
Deshalb sind solche Menschen mitunter auch ein klein bisschen neidisch auf all diejenigen, die sich ihre Glückszustände wenigstens ab und an noch künstlich verschaffen können. Wenn sie aber "aus der Not heraus" ihr Leben soweit umgestellt haben, dass sie alternative "Kicks" für sich entdecken konnten, gehören sie zu den sehr glücklichen, ausgeglichenen, im wahren Wortsinn zufriedenen Menschen. Denn selbst gemachtes Glück ist allemal "befriedigender" als künstlich erzeugtes.
Das gilt übrigens auch für diejenigen, deren MEOS noch nicht so ausgeprägt ist, und die schon vorher auf Abstinenz setzen und darauf bauen, gute Gefühle und "Glückszustände" nicht von "Stoffen" abhängig zu machen.
PapflStatistik: Verfasst von Papfl — 27. September 2014, 17:54
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