Achtung, das wird sogar für meine Verhältnisse lang.
Argentina1 hat geschrieben:Was ist denn so schlimm daran maßlos zu sein?
Scham und Unfähigkeit
Das klingt jetzt vielleicht 'nen Hauch pessimistisch, ist es aber nicht.
Es ist das Résumé meiner bisherigen PT, Inwendung (=Hinwendung nach Innen, gibt's das Wort? Sonst sei' es hiermit erfunden), das Tracking des gegangenen Wegs.
(Die Angst vor) Scham resultiert bei mir aus der Familiengeschichte.
Die übersteigerte Sehnsucht nach gesellschaftlicher Akzeptanz ist Resultat kindlicher Prägung durch eine Familie, die „Alles“ in den Kriegswirren und den unmittelbaren Folgen verloren hatte: Heim, Besitz, Vater, Großmutter, zwei Schwestern. Und das Selbstvertrauen.
Auffallen um keinen Preis, einfügen in die Gesellschaft, die die Flüchtlinge zähneknirschend aufnahm. Irgendwie wieder zu irgendwas kommen, immer begleitet von der Angst, die gemachte Erfahrung könne sich jederzeit wiederholen.
Machte ich als Kind Pläne und baute mein „Wolkenkuckucksheim“, kam 100%ig: „Und dann kommt ein Krieg (wahlweise: die Inflation), und alles ist weg!“.
Da machst Du irgendwann keine Pläne mehr und auf allem, was Du besitzt, klebt das Pfandsiegel der Verlustangst.
Nach dem frühen Freitod meines Vaters (ich war acht Monate alt) wuchs ich bei Mutter und Großmutter auf. Die Familie meiner Großmutter war ein bisschen "was besseres". Meine Urgroßmutter besaß unter anderem ein selbst gemachtes, besticktes Totenhemd, in dem sie begraben werden wollte. Sie ist dann auf der Flucht von Stettin nach Hamburg tot aus dem fahrenden Güterzug geworfen worden. Ohne Totenhemd. Sage mir bitte keiner, ich solle meine Probleme zusammen mit meiner Mutter aufarbeiten. Was diese Generationen durchgemacht haben, kann ich nichtmal in Alpträumen ermessen.
Gleichzeitig liegt über jeder Tätigkeit der Versuch, den „gesellschaftlichen Aufstieg“ hinzubekommen, irgendwie wieder dazuzugehören.
Produzierte ich in einer Klassenarbeit eine „Fünf“, war die alles bestimmende Frage nicht: wie kommt das Kind damit klar? Auch nicht: an welcher Stelle können wir wie den verpassten Stoff nachholen und die Lücke füllen? Die alles überlagernde Frage war: „Was sollen die Leute denken?“
Sie ist es bis heute.
Vor ein paar Wochen stolperten meine Frau und ich über das Angebot zu einer wirklichen Traumwohnung. Parklage Bad Godesberg, eine Etage komplett für uns, Aufzug bis in die Wohnung. Zwei Minuten zum Bahnhof, zwei Sekunden zur U-Bahn, trotzdem ruhig, groß genug, um jetzt noch mit sechs Personen einziehen zu können, aber so geschnitten, dass es für meine Frau und mich der perfekte Altersruhesitz gewesen wäre... Alles, was Du Dir denken kannst (einziges Manko: die Dachterasse etwas zu klein).
Arschteuer, aber wäre für uns so gerade noch bezahlbar gewesen.
Allerdings besteht die Gefahr, dass ich möglicherweise nicht morgens um fünf Kontrabass üben, dass ich nicht „rücksichtslos“ leben können könnte, da ich ja die unter uns Wohnenden stören könnte. Allein die Möglichkeit, dass es so sein
könnte, verleidet mir diese Wohnung.
Was sollen die Leute denken?
Jeder falsch ausgegebene Fünfziger, jeder unterlaufene Fehler könnte das Ende bedeuten. Das Ende wovon?
Von meinem Ansehen.Zeitgleich eigne ich mich nicht als graue Maus.
Ich bin (ich hau’ jetzt mal auf die Sahne) Querdenker, Andersdenker, Weiterdenker. Künstler, Hinterfrager, Philosoph.
Ein bunter Hund.
Und bunte Hunde gehören erschlagen.
Und da kommt die Unfähigkeit ins Spiel. Die Unfähigkeit, mit dieser Diskrepanz, dieser kognitiven Dissonanz, oder, positiv ausgedrückt, mit diesem Spannungsfeld umzugehen.
Da ist der IdealWillo mit dem italienischen Anzug, den Maßschuhen, dem Porsche Panamera S Hybrid (VorzeigeUmweltYuppie), der beim Betreten seines Büros (150 m2, Rheinblick) der von den Kindern gestressten Sekretärin noch augenzwinkernd ein paar funktionierende Erziehungstipps gibt, bevor er mit sicherer Hand ein Produkt entwirft, das ihm nicht nur Millionen und Abermillionen Euros in die Kasse spült, sondern gleichzeitig die namenlose Bewunderung von Millionen und Abermillionen Menschen.
Einmal Steve Jobs, nur ohne den Leberkrebs, bitte.
Und dann ist da der andere IdealWillo, der mit zwei Zelten, zwei Gaskochern, zwei Töpfen, vier Kindern und einer Frau ausgerüstet am Kilimanjaro lebt, bei gutem Flugwetter durch den Himmel schwebt, bei schlechtem Flugwetter malt und Bücher schreibt, was genau so viel abwirft, dass man davon zelten, essen, malen und fliegen kann.
Aber ernsthaft aussteigen?
Da ist viel zu viel „erschlagt den bunten Hund“. Was sollen die Leute denken? Wenn schon aussteigen, dann bitte durchgeimpft und mit Erfolg.
Einmal Reinhold Messner, aber mit allen Zehen, bitte.
Ich bin unfähig, mich für einen von beiden zu entscheiden (der andere könnte ja die bessere Alternative gewesen sein), und sie irgendwie in Frieden zu vereinen schaffe ich auch nicht.
Und so tanze ich meine Alltags-Tarantella, hingerissen zum Einen, hergerissen vom Anderen, am Ende atemlos und immer noch an der gleichen Stelle. Befeuert von „geliehener Energie“ (danke Conny für diesen Ausdruck), von der ich nicht weiß, wann ich sie zurückzahlen soll und wissend, dass die eigene Energie nicht reicht, um zwei Leben in einem zu führen.
Argentina1 hat geschrieben:Was ist denn so schlimm daran maßlos zu sein?
Dass ich es
bin, mich aber nicht traue, es zu
sein.
Klar, Conny und ich haben Dich vielleicht durch unsere Fragen und Ideen dazu gebracht, Dein Pferd tatsächlich zu kaufen, es zu machen. Aber
gemacht hast Du es.
Macht schon Sinn, meinen jetzigen Ansatz nach Dir zu benennen, denn was ich von Dir lerne ist, dass es nicht darum geht, etwas fehlerfrei und perfekt zu machen. Es geht auch nicht darum, dass es dabei nicht gelegentlich auf's Maul gibt. Es geht nur darum,
es zu machen.
LG
Willo